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Kolumne von Dr. Dietrich Mack



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Vom richtigen Leben
Wenn ich in jüngeren Jahren versucht habe, die komplizierten Schriften des einflussreichen deutschen Philosophen Theodor W. Adorno zu verstehen, musste ich oft resigniert einsehen, dass Chr. G. Lichtenberg mit seinem hübschen Aphorismus recht hat: „Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal nicht die Schuld des Buches.“ Aber Adornos Behauptung, es gebe kein richtiges Leben im falschen, habe ich mir gemerkt, weil sie so einfach schien. Welch ein Irrtum!
Man wird sich unter vernünftigen Menschen rasch darauf verständigen, dass die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Bedingungen oft ein richtiges Leben verhindern, also falsch sind. Bisweilen aber sind sie nur eine Ausrede und wir stehen uns selber im Wege. Viel schwieriger ist die Antwort auf die Frage, was ein richtiges Leben ist. Viele ältere Menschen ziehen ihre Kraft aus schönen Erinnerungen zum Beispiel an ein verklärtes Weihnachtsfest. „Damals“ war alles richtig. Der Baum, die Gans, die Lieder, die Blockflöte, die leuchtenden Kinderaugen, sogar das umweltschädliche Lametta, alles ohne Hektik, Lärm und Streit. Natürlich ist das Schönfärberei, aber als Seelentrost Balsam für die Mühen des Alters. Jüngere Menschen ziehen ihre Energie aus der Zukunft, machen Pläne für ein richtiges Leben, für einen guten Job, tolle Partner, eigene Kinder, bauen ein Haus mit vielen Wunschzimmern. Vergangenheit und Zukunft sind wie bei einem Kunstwerk aber nur der Rahmen für das wertvolle Gemälde mit dem Titel: „Gegenwart“. Nutze den Tag, carpe diem, sagt der Lateiner, von Vergangenheit und Zukunft ist keine Rede. Denn nur in der Gegenwart, im konkreten „Hier und Jetzt“ leben wir. „Leben musst du, liebes Leben/Leben noch dies eine Mal“, schreibt Hugo von Hofmannsthal in dem Liedchen des Harlekin. Alles andere könne ein Herz ertragen. Die Frage ist nur: wie?
Dieser Tage las ich ein Interview mit einem sehr reichen Mann, dem vor langer Zeit nach einem unverschuldeten Unfall ein Bein und ein Arm amputiert wurden. Auf die Frage, ob er seinen Reichtum gegen Arm und Bein eintauschen würde, sagte er: damals nach dem Unfall ja, heute nein. Ich holte tief Luft, wollte ihn sofort verurteilen. Dann las ich weiter: Jetzt mit 62 Jahren würde er kein großes Vermögen mehr aufbauen können, um seine acht Kinder gut zu versorgen, viel zu spenden und ein richtig gutes Leben zu führen. Darum sei ihm das Konto lieber als Arm und Bein. Ein treu sorgender Vater und Wohltäter also? Ein extremer Fall, aber der reiche Mann bekennt sich zu dem für ihn richtigen Leben. Jeder ist seines Glückes Schmied, sagt man dann, jedem sei es gegönnt, wenn er damit nicht seine Mitmenschen und seine Umwelt schädigt.
Es gibt eine Flut von Ratgeberbüchern zum richtigen Leben; man muss sie nicht lesen, man muss auch nicht zum Therapeuten, denn eigentlich weiß man, was zu tun ist: Weniger Handy mehr Gespräche, weniger Fernsehen mehr Wald, weniger Hektik mehr Pausen, weniger Lärm mehr Stille, weniger Fleisch mehr Gemüse, mehr Hilfsbereitschaft, Achtsamkeit, Geduld, Dankbarkeit, Fröhlichkeit, Unvernunft – die Liste könnte noch viel länger sein. In dem etwas Anderen Kalender, der unsere Familie in der Adventszeit verbindet, las ich vor wenigen Tagen: „Jeder Mensch hat einen Himmel über seiner Wunde und einen kleinen gesetzwidrigen Frühlingszettel in seiner Tasche.“ Das eine ist tröstlich, das andere überraschend. Ist der „kleine gesetzwidrige Frühlingszettel“ nicht ein schönes Bild für mehr Unvernunft wagen?
Da wir im Geist stark, aber im Fleisch schwach sind, muss jeder von uns sein richtiges Leben täglich überprüfen und reparieren, damit, wenn „die gestundete Zeit sichtbar wird am Horizont“, wie Ingeborg Bachmann so schön geschrieben hat, wir nicht sagen müssen: „Hätte ich doch“. Viele Fehler kann man korrigieren, diesen nicht. „Hätte ich doch“ ist der Gau unseres Lebens. Darüber sollten wir im Advent nachdenken und spätestens ab Neujahr danach handeln. Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, schon im Winter viele „kleine gesetzwidrige Frühlingszettel“ und friedliche Weihnachtstage.




Mit diesem Text begann alles im Jahr 2015

Unausweichlich: der Jahreswechsel kommt

In vielen Familien haben Silvester und Neujahr feste Rituale. Diese Familien sind glücklich. Ich beneide sie. Bei uns beginnt die Diskussion jedes Jahr von neuem, wenn die Supermärkte die Osterhasen in Weihnachtsmänner umgeschmolzen haben, also im Spätsommer. Sie verschärft sich von Tag zu Tag. Meine Frau, ein Zwilling, ist mit Harmonie und Unentschlossenheit gesegnet. Um mich zu
besänftigen, sagte sie schließlich: „Wien, das wird dir gefallen.“ Viele Jahre habe ich dort studiert, gearbeitet und vor allem gelebt. Meine seligen Erinnerungen kennt sie auswendig, wie das in guten Ehen üblich ist. Wohnen, wo Pavarotti Pasta kochte, Tafelspitz bei Plachutta, Stöbern im Dorotheum, Häppchen mit Pfiff bei Trzesniewsky, Hawelka gegenüber, Stadtheuriger, Krönungsmesse in der Hofburg. Perfekt – dachte ich. Meine Frau nickte ergeben:„Aber nur, wenn wir ins Neujahrskonzert gehen.“ Ich hielt die Luft an. Sie wollte in den Musikvereinssaal, in diesen goldenen Tempel der klassischen Musik. Ein normales Abonnement für die Wiener Philharmoniker ist als Erbschaft begehrter als ein prall gefülltes Nummernkonto. Als Studenten mussten wir auf viele Heurige verzichten und viele Schillinge für Trinkgelder locker machen, um dort Konzerte mit neuer Musik zu hören, also alles nach Wagner, Strauss mal ausgenommen. Ins Neujahrskonzert kam ich nie. Die Eltern meines Freundes aus Texas hatten es ein Mal geschafft. Sie wohnten im Sacher, erwarben sich das Wohlwollen des Chefportiers, der ihnen mit seinen gekreuzten goldenen Schlüsseln das Neujahrskonzert aufschloss. Große Geldscheine umwölkten meine Stirn. Als ich zum Telefon griff, riet mir meine Frau zum Internet, das sei nicht so vornehm, aber sicher preiswerter. Ich fand ein Ticketcenter, das Karten in der besten Kategorie anbot. Meine Lesebrille beschlug sich. Meine Frau hörte mein Stöhnen: „Such bei ebay“. Neue Hoffnung, neue Eingabe. Viele Neujahrskonzerte auf CD, MP3, DVD, Bilder, Bücher und, irgendwo versteckt, 2 Karten gegen Höchstgebot, 5400 (in Worten fünftausendvierhundert) Euro, nicht Schilling. „Immerhin“, sagte meine Frau, „billiger als beim Ticketcenter“.
Dort sollten zwei Karten 7800 Euro kosten, beste Kategorie. Meine Frau gab nicht auf: „Stehplatz, das macht uns jünger.“ Ich schaute auf den Bildschirm: Ärmer! Zwei Karten 1500 Euro. Ein letztes Aufbäumen: „Erinnere dich an die geteilte Walküre? Jeder eine Halbzeit auf Stehplatz.“ Ich rechnete: das wären läppische 375 Euro für jeden, Stehplatz, eine Halbzeit. Wir schauten uns an,
lachten und beschlossen, Jahresabonnements für die Opern in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und viele schöne Konzertreihen zu kaufen. Auch das Festspielhaus in Baden-Baden werden wir uns leisten. Wir hatten ja viel gespart. Aber nach Wien reisen wir trotzdem. Ich will mich mit dem Mann mit den goldenen Schlüsseln unterhalten, vertraulich. Neujahr bleibt unausweichlich.