Weitere Kolumnen von Dr. Dietrich Mack
Nackt in die Oper?
Als der Vorstandsvorsitzende des Daimler Konzerns bei einer Hauptversammlung mit offenem Hemd, Jeans und Sneakers Optimismus zu verbreiten versuchte, wirkte das ebenso befreiend wie schockierend. Das erinnerte an den Staub unter den Talaren und den Muff von tausend Jahren, den die Studentenbewegung hinwegfegen wollte. Natürlich hat Dieter Zetsche die Casual Kleidung nicht erfunden, damit lebten wir seit langem bequem im Alltag, sogar die konservativen Banker knöpften mutig den oberen Hemdknopf auf und die Krawatte wurde nicht nur am „Schmotzigen Dunschtig“ in fröhlichen Regionen abgeschnitten, sondern auch in besseren Kreisen. Aber Zetsche war nicht bei der Gartenarbeit, er war beim Hochamt des Konzerns. Das war spektakulär. Für viele wurde er zum Vorbild, für andere nicht.
Bei Schulabschlussfeiern putzen sich junge Damen so heraus, als ob sie zum Wiener Opernball oder schon zur eigenen Hochzeit gingen. Auf feinen Schiffen und in feinen Restaurants in New York, London oder Paris muss man sich besser anziehen als in der Oper. Im Spielkasino herrscht Jackettpflicht (gibt es leihweise), im Petersdom sind nackte Schultern und Waden verboten. Der schwäbische Unternehmer Wolfgang Grupp tritt immer im maßgeschneiderten Dreireiher mit Krawatte, Einstecktuch und Manschettenknöpfen auf, denn ordentliche Kleidung, sagt er, ist Ausdruck des Respekts vor seinem Gegenüber. Doch was ist eine ordentliche Kleidung? Ein weites Feld würde Fontane sagen. Das sagte sich kürzlich auch Lauren Sánchez, verheiratete Bezos, und packte 27 Kleider für drei Tage Hochzeit in Venedig ein.
Sie hätte natürlich keinerlei Schwierigkeiten, die Mailänder „Scala“ zu besuchen, sie hätte immer das richtige Kleidungsstück dabei, mit Wechsel in der Pause, wie das Sängerinnen gerne tun. Das kann man nicht von jedem Zuschauer erwarten. Und so gab es Ärger. Die „Scala“ ist kein Stadttheater, sondern seit 1778 ein berühmtes Opernhaus mit 2005 Plätzen und, das ist in diesem Zusammenhang wichtig, einer modernen Klimaanlage, von der Bayreuth nur träumen kann. Hier trat die Crème de la Crème auf, Caruso, Maria Callas, Toscanini, Karajan usw. „La Prima“, die Saisoneröffnung am 7. Dezember, ist ein gesellschaftliches Großereignis wie der Rote Teppich bei den Bayreuther Festspielen. Grupp würde sicher den Dreiteiler gegen Black Tie mit Kummerbund tauschen und Zetsche müsste sich kostümieren.
Auch bei normalen Aufführungen ist die Würde des Theaters zu respektieren, die Zuschauer haben sich „consono al decoro del Teatro“ zu kleiden. Zu diesem Hinweis sah sich „La Scala“ genötigt, nachdem immer häufiger vor allem Touristen mit Tank-Tops, kurzen Hosen, Flipflops und Handys Einlass begehrten. Da Mahnungen nicht helfen, wenn sie nicht strafbewehrt sind, das ist eine allgemeine Lebenserfahrung, weist die Oper darauf hin, dass renitente Besucher keine Rückerstattung ihrer Eintrittskarten erhalten.
Mailand ist kein Einzelfall. Vorfälle dieser Art gab es immer wieder und auch in Baden-Baden gilt oft: Bequemlichkeit vor Respekt, vor allem bei den Älteren, nicht bei den Jungen. Sollten also die Theater vorsorglich ordentliche Kleidung aus dem Fundus leihweise anbieten? Casinos tun das auch und vor dem Petersdom werden Tücher verkauft. Muss ja kein Dreiteiler sein. Oder ist das eine erfreuliche Entwicklung, Ausdruck der erhofften Demokratisierung dieser Künste, Abbau von Schwellenangst? Sind Theater, Oper, Konzert keine Feste, sondern Alltag, ist Casual Kleidung angesagt? Es könnte, vor allem wenn man den Klimawandel bedenkt, noch schlimmer kommen und Menschen, denen es nicht zum Vorteil gereicht, die Hüllen fallen zu lassen, würden als ideologisch gefestigte Nudisten Einlass in Opernhäuser begehren. Da würde sich der Gast mit Grausen wenden und sehnsüchtig an Tank-Tops denken. Das hat Zetsche sicher nicht gewollt.
Mit diesem Text begann alles im Jahr 2015
Unausweichlich: der Jahreswechsel kommt
In vielen Familien haben Silvester und Neujahr feste Rituale. Diese Familien sind glücklich. Ich beneide sie. Bei uns beginnt die Diskussion jedes Jahr von neuem, wenn die Supermärkte die Osterhasen in Weihnachtsmänner umgeschmolzen haben, also im Spätsommer. Sie verschärft sich von Tag zu Tag. Meine Frau, ein Zwilling, ist mit Harmonie und Unentschlossenheit gesegnet. Um mich zu
besänftigen, sagte sie schließlich: „Wien, das wird dir gefallen.“ Viele Jahre habe ich dort studiert, gearbeitet und vor allem gelebt. Meine seligen Erinnerungen kennt sie auswendig, wie das in guten Ehen üblich ist. Wohnen, wo Pavarotti Pasta kochte, Tafelspitz bei Plachutta, Stöbern im Dorotheum, Häppchen mit Pfiff bei Trzesniewsky, Hawelka gegenüber, Stadtheuriger, Krönungsmesse in der Hofburg. Perfekt – dachte ich. Meine Frau nickte ergeben:„Aber nur, wenn wir ins Neujahrskonzert gehen.“ Ich hielt die Luft an. Sie wollte in den Musikvereinssaal, in diesen goldenen Tempel der klassischen Musik. Ein normales Abonnement für die Wiener Philharmoniker ist als Erbschaft begehrter als ein prall gefülltes Nummernkonto. Als Studenten mussten wir auf viele Heurige verzichten und viele Schillinge für Trinkgelder locker machen, um dort Konzerte mit neuer Musik zu hören, also alles nach Wagner, Strauss mal ausgenommen. Ins Neujahrskonzert kam ich nie. Die Eltern meines Freundes aus Texas hatten es ein Mal geschafft. Sie wohnten im Sacher, erwarben sich das Wohlwollen des Chefportiers, der ihnen mit seinen gekreuzten goldenen Schlüsseln das Neujahrskonzert aufschloss. Große Geldscheine umwölkten meine Stirn. Als ich zum Telefon griff, riet mir meine Frau zum Internet, das sei nicht so vornehm, aber sicher preiswerter. Ich fand ein Ticketcenter, das Karten in der besten Kategorie anbot. Meine Lesebrille beschlug sich. Meine Frau hörte mein Stöhnen: „Such bei ebay“. Neue Hoffnung, neue Eingabe. Viele Neujahrskonzerte auf CD, MP3, DVD, Bilder, Bücher und, irgendwo versteckt, 2 Karten gegen Höchstgebot, 5400 (in Worten fünftausendvierhundert) Euro, nicht Schilling. „Immerhin“, sagte meine Frau, „billiger als beim Ticketcenter“.
Dort sollten zwei Karten 7800 Euro kosten, beste Kategorie. Meine Frau gab nicht auf: „Stehplatz, das macht uns jünger.“ Ich schaute auf den Bildschirm: Ärmer! Zwei Karten 1500 Euro. Ein letztes Aufbäumen: „Erinnere dich an die geteilte Walküre? Jeder eine Halbzeit auf Stehplatz.“ Ich rechnete: das wären läppische 375 Euro für jeden, Stehplatz, eine Halbzeit. Wir schauten uns an,
lachten und beschlossen, Jahresabonnements für die Opern in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und viele schöne Konzertreihen zu kaufen. Auch das Festspielhaus in Baden-Baden werden wir uns leisten. Wir hatten ja viel gespart. Aber nach Wien reisen wir trotzdem. Ich will mich mit dem Mann mit den goldenen Schlüsseln unterhalten, vertraulich. Neujahr bleibt unausweichlich.