Weitere Kolumnen von Dr. Dietrich Mack
Ein Hamburger Lehrstück
Als mein früherer Chef in Pension ging, hinterließ er mir, Homeoffice gab es noch nicht, einen blanken Schreibtisch, auf dem nur die Gehaltsliste der Mitarbeiter und das „Handorakel“ von Balthasar Gracian lagen. Die Gehaltsliste trug den Hinweis: „Verschlusssache“, das Orakel: „zum fleißigen Gebrauch“. Dann war mein Chef weg, dienstlich zumindest. Wenn der evangelische Dorfpfarrer in Pension geht, musste er früher wegziehen, damit sein Nachfolger unbelastet von seiner Gegenwart seines Amtes walten konnte. Wenn der hochbetagte Landarzt aufhört und wunderbarerweise einen Nachfolger findet, ist dieser einerseits froh, wenn der „Alte“ aushilft, andererseits verärgert, wenn die Privatpatienten immer noch zum „Alten“ laufen.
Klarer Schnitt ist nicht immer, aber meist das Beste. Den hat man beim Hamburg Ballett nicht gemacht. Dort ist etwas passiert, was zwar den ungestümen Lauf der Welt nicht beeinflusst, wohl aber das Kulturleben weit über Hamburg hinaus. Der alte Chef kann nicht loslassen, den neuen kippt die Basis. Starker Tobak.
51 Jahren war John Neumeier als Ballettchef in Hamburg so absolut und erfolgreich, dass Donald Trump ihn und nicht Elon Musk ins Weiße Haus hätte berufen müssen, was Neumeier selbstverständlich abgelehnt hätte. Im letzten Jahr wurde auch mit seiner Stimme Denis Volpi als Nachfolger gewählt. Der „Neue“, im Enkelalter von Neumeier, sollte natürlich ebenso erfolgreich sein wie der „Alte“, dessen Erbe bewahren und mit neuen internationalen Choreographen frischen Wind an die Elbe bringen. Soweit so schwierig. Neumeier, kein Freund von Homeoffice, blieb im Ballettzentrum präsent, um das Bundesjugendballett, viele Gastspiele, seine Stiftung zu betreuen und natürlich viele Fäden zu ziehen. The big brother is watching you. Da muss man schon sehr robust sein. Vielleicht war Volpi zu robust. Jedenfalls verweigerten ihm viele Tänzer die Gefolgschaft, schrieben öffentlich wirksam von einem toxischen Arbeitsklima und Inkompetenz. Rauch stieg auf, anonyme Befragung der Tänzer zur „Gefährdungsbeurteilung“, das Feuer war nicht mehr zu löschen, sofortige Freistellung, einvernehmlicher Auflösungsvertrag. „Einvernehmlich“ bedeutet immer Goldener Handschlag, man kennt es von Fußballtrainern. Hier hat die Basis die Entlassung des Chefs erwirkt. Eine erfolgreiche Revolte. Im Kulturbetrieb sehr ungewöhnlich.
Von Kulturchefs wird nicht nur ein volles Haus erwartet, sondern auch künstlerischer Ruhm für Stadt und Land. Das sind ihre Dividenden und Tore. Fast alle großen Dirigenten, alle Filmregisseure waren autoritär; John Neumeier ebenso. Wen die Aura eines künstlerischen Genies umgibt, ist unfehlbar. So war es bisher. Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Basis ist selbstbewusster geworden, der Chef vorsichtiger, denn es gibt nicht nur die „Überwachung“, sondern auch die „Unterwachung“. Dieser vom Soziologen Niklas Luhmann populär gemachte Begriff der „sousveillance“ soll vor Machtmissbrauch und autoritären Strukturen schützen. „Unterwachung“ ist im Vormarsch. Ob das für den Kulturbetrieb ein Gewinn ist, bleibt abzuwarten. Im Konzert entscheidet der Dirigent, wie lang die Fermate dauert, im OP der Chirurg (auch ein Künstler), wo der Schnitt gesetzt wird. Diskutieren kann man vorher oder nachher. Vielleicht hat Denis Volpi Fehler gemacht, vielleicht war er Opfer einer „Neumeier-Dämmerung“. Nun lecken alle ihre Wunden.
Und die Lehren? Auch in der Kultur wird die Autorität eines Chefs immer stärker hinterfragt, auch in der Kultur sollten Chefs „nicht abwarten, dass man eine untergehende Sonne sei. Es ist eine Regel der Klugen, die Dinge zu verlassen, ehe sie uns verlassen“ (Gracian).
Karl Lauterbach musste nicht nur sein Ministerbüro verlassen, sondern auch seine im Ministeriumkeller aufgestellte Tischtennisplatte. Da war der Schnitt klar und kleinlich.
Mit diesem Text begann alles im Jahr 2015...
Unausweichlich: der Jahreswechsel kommt
In vielen Familien haben Silvester und Neujahr feste Rituale. Diese Familien sind glücklich. Ich beneide sie. Bei uns beginnt die Diskussion jedes Jahr von neuem, wenn die Supermärkte die Osterhasen in Weihnachtsmänner umgeschmolzen haben, also im Spätsommer. Sie verschärft sich von Tag zu Tag. Meine Frau, ein Zwilling, ist mit Harmonie und Unentschlossenheit gesegnet. Um mich zu
besänftigen, sagte sie schließlich: „Wien, das wird dir gefallen.“ Viele Jahre habe ich dort studiert, gearbeitet und vor allem gelebt. Meine seligen Erinnerungen kennt sie auswendig, wie das in guten Ehen üblich ist. Wohnen, wo Pavarotti Pasta kochte, Tafelspitz bei Plachutta, Stöbern im Dorotheum, Häppchen mit Pfiff bei Trzesniewsky, Hawelka gegenüber, Stadtheuriger, Krönungsmesse in der Hofburg. Perfekt – dachte ich. Meine Frau nickte ergeben:„Aber nur, wenn wir ins Neujahrskonzert gehen.“ Ich hielt die Luft an. Sie wollte in den Musikvereinssaal, in diesen goldenen Tempel der klassischen Musik. Ein normales Abonnement für die Wiener Philharmoniker ist als Erbschaft begehrter als ein prall gefülltes Nummernkonto. Als Studenten mussten wir auf viele Heurige verzichten und viele Schillinge für Trinkgelder locker machen, um dort Konzerte mit neuer Musik zu hören, also alles nach Wagner, Strauss mal ausgenommen. Ins Neujahrskonzert kam ich nie. Die Eltern meines Freundes aus Texas hatten es ein Mal geschafft. Sie wohnten im Sacher, erwarben sich das Wohlwollen des Chefportiers, der ihnen mit seinen gekreuzten goldenen Schlüsseln das Neujahrskonzert aufschloss. Große Geldscheine umwölkten meine Stirn. Als ich zum Telefon griff, riet mir meine Frau zum Internet, das sei nicht so vornehm, aber sicher preiswerter. Ich fand ein Ticketcenter, das Karten in der besten Kategorie anbot. Meine Lesebrille beschlug sich. Meine Frau hörte mein Stöhnen: „Such bei ebay“. Neue Hoffnung, neue Eingabe. Viele Neujahrskonzerte auf CD, MP3, DVD, Bilder, Bücher und, irgendwo versteckt, 2 Karten gegen Höchstgebot, 5400 (in Worten fünftausendvierhundert) Euro, nicht Schilling. „Immerhin“, sagte meine Frau, „billiger als beim Ticketcenter“.
Dort sollten zwei Karten 7800 Euro kosten, beste Kategorie. Meine Frau gab nicht auf: „Stehplatz, das macht uns jünger.“ Ich schaute auf den Bildschirm: Ärmer! Zwei Karten 1500 Euro. Ein letztes Aufbäumen: „Erinnere dich an die geteilte Walküre? Jeder eine Halbzeit auf Stehplatz.“ Ich rechnete: das wären läppische 375 Euro für jeden, Stehplatz, eine Halbzeit. Wir schauten uns an,
lachten und beschlossen, Jahresabonnements für die Opern in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und viele schöne Konzertreihen zu kaufen. Auch das Festspielhaus in Baden-Baden werden wir uns leisten. Wir hatten ja viel gespart. Aber nach Wien reisen wir trotzdem. Ich will mich mit dem Mann mit den goldenen Schlüsseln unterhalten, vertraulich. Neujahr bleibt unausweichlich.