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Kolumne von Dr. Dietrich Mack


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Bücherleser sind Umweltsünder!
Wie würde wohl der große Johannes Gutenberg reagieren, wenn ihm ein Friedhofswächter den Artikel „Oje, liebes Papierbuch“ der Stiftung Warentest (7/2025) vorlesen würde? Er, der mit seiner Erfindung des modernen Buchdrucks die Welt mehr verändert hat als alle Social Media Giganten (soweit man das heute beurteilen kann), würde sich wahrscheinlich gelassen im Grab umdrehen, denn seine Erfindung hat schon mehr als 500 Jahre und viele Stürme überstanden, sogar die Bücherverbrennung der Nazis. Wir dagegen reagieren mit Entsetzen, weil der Angriff auf das gedruckte Buch nicht von bösen Buben kommt, sondern uns mit vernünftigen Argumenten mitten ins Herz trifft.
Als Buchfreund hat man schon einiges erlebt: die finsteren Blicke von Möbelpackern bei Umzügen, die Warnungen von Ärzten vor zu viel Bücherstaub, die ironischen Fragen von Gästen, ob man das alles gelesen habe, das schmerzliche Aussortieren, wenn die berühmten Billy-Regale kapitulieren. Aber all das prallt am Bücherfreund ab, denn die Glücksgefühle, ein in Leinen oder Leder schön gebundenes Buch mit Lesebändchen zu tätscheln, sind ein sinnliches Erlebnis, nicht unähnlich dem erotischen, und wie diese der Beginn großer Abenteuer in der einen oder anderen Form. Cicero wird das frei übersetzte Wort zugeschrieben: Ein Haus ohne Bücher sei wie ein Körper ohne Seele.
Die Stiftung Warentest will uns nun zu seelenlosen Menschen machen, will uns nicht das Lesen verbieten, aber den Besitz schöner, gedruckter Bücher. Sie rechnet uns mit vielen Zahlen, Statistiken und Argumenten vor, wie schädlich Herstellung, Lagerung, Verkauf, Nutzung und Entsorgung gedruckter Bücher für Umwelt und Klima sind. Besonders schädlich sind die gebundenen Bücher. Alles vernünftig. Meine kleine Bibliothek mutiert zu einem ökologischen Alptraum. Bin ich auch nicht besser als die Wochenendflieger? Kommt zur Flugscham die Buchscham?
Die Stiftung empfiehlt, auf eBooks und Hörbücher umzusteigen, Bücher nicht zu kaufen, sondern aus Bibliotheken und von Freunden zu leihen, mit ökologisch reinem Gewissen gelesene Bücher als Gastgeschenke mitzubringen. Alles mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Das sei platzsparend und reduziere drastisch die Auflage dieser Schadobjekte. Uneinsichtige Menschen sollen sich vorläufig mit Taschenbüchern und gebrauchten Hardcoverbüchern begnügen, am besten mit gebrauchten Taschenbüchern.
Erstaunlicherweise haben Verlage und Buchhandlungen nicht mit dem Untergang des Abendlandes gedroht. Hoffen sie auf eine Explosion des digitalen Marktes? Bisher stagniert der Anteil der eBooks am deutschen Buchmarkt bei 4.5 bis 6,1 % (je nach Statistik). Sind sie wie Gutenberg gelassen, weil das gedruckte Buch für die anspruchsvolle Literatur, als Sach- und Wissenschaftsbuch, mit dem man arbeiten will, unverzichtbar bleibt, wie andere Forschungen hoffen lassen?  Oder weil sich ganz generell in kleinen Enklaven, vor allem in Skandinavien, Widerstand gegen die digitale Vergewaltigung erhebt, in Schulen, in teuren Restaurants ein Handyverbot gilt? Wir Büchernarren haben nicht nur eine kurze Faschingsaison.
Die Argumente der Stiftung Warentest sind vernünftig. Aber muss unser ganzes Leben aus Vernunft bestehen? Natürlich sind Ausstellungen, Konzerte, Theateraufführungen oder im schädlichsten Fall ein Operngastspiel mit 100 bis 200 reisenden Künstlern ökologisch verwerflich. Aber wir genießen die Unvernunft, sind  beglückt, bereichert, begeistert inmitten vieler Menschen, denn der Mensch lebt weder vom Brot noch vom Klimaschutz allein.
Das Schicksal der eZigaretten (2%) wünschen wir dem eBook nicht, aber wir wollen nicht, dass Verlage, wie die Tabakindustrie, drastisch darauf hinweisen müssen, jedes gedruckte Buch schädige Umwelt und Klima. Wir wollen uns die Freude an unseren Büchern nicht verderben lassen. Sonst können wir uns gleich zu Gutenberg legen.

Mit diesem Text begann alles im Jahr 2015...

Unausweichlich: der Jahreswechsel kommt

In vielen Familien haben Silvester und Neujahr feste Rituale. Diese Familien sind glücklich. Ich beneide sie. Bei uns beginnt die Diskussion jedes Jahr von neuem, wenn die Supermärkte die Osterhasen in Weihnachtsmänner umgeschmolzen haben, also im Spätsommer. Sie verschärft sich von Tag zu Tag. Meine Frau, ein Zwilling, ist mit Harmonie und Unentschlossenheit gesegnet. Um mich zu
besänftigen, sagte sie schließlich: „Wien, das wird dir gefallen.“ Viele Jahre habe ich dort studiert, gearbeitet und vor allem gelebt. Meine seligen Erinnerungen kennt sie auswendig, wie das in guten Ehen üblich ist. Wohnen, wo Pavarotti Pasta kochte, Tafelspitz bei Plachutta, Stöbern im Dorotheum, Häppchen mit Pfiff bei Trzesniewsky, Hawelka gegenüber, Stadtheuriger, Krönungsmesse in der Hofburg. Perfekt – dachte ich. Meine Frau nickte ergeben:„Aber nur, wenn wir ins Neujahrskonzert gehen.“ Ich hielt die Luft an. Sie wollte in den Musikvereinssaal, in diesen goldenen Tempel der klassischen Musik. Ein normales Abonnement für die Wiener Philharmoniker ist als Erbschaft begehrter als ein prall gefülltes Nummernkonto. Als Studenten mussten wir auf viele Heurige verzichten und viele Schillinge für Trinkgelder locker machen, um dort Konzerte mit neuer Musik zu hören, also alles nach Wagner, Strauss mal ausgenommen. Ins Neujahrskonzert kam ich nie. Die Eltern meines Freundes aus Texas hatten es ein Mal geschafft. Sie wohnten im Sacher, erwarben sich das Wohlwollen des Chefportiers, der ihnen mit seinen gekreuzten goldenen Schlüsseln das Neujahrskonzert aufschloss. Große Geldscheine umwölkten meine Stirn. Als ich zum Telefon griff, riet mir meine Frau zum Internet, das sei nicht so vornehm, aber sicher preiswerter. Ich fand ein Ticketcenter, das Karten in der besten Kategorie anbot. Meine Lesebrille beschlug sich. Meine Frau hörte mein Stöhnen: „Such bei ebay“. Neue Hoffnung, neue Eingabe. Viele Neujahrskonzerte auf CD, MP3, DVD, Bilder, Bücher und, irgendwo versteckt, 2 Karten gegen Höchstgebot, 5400 (in Worten fünftausendvierhundert) Euro, nicht Schilling. „Immerhin“, sagte meine Frau, „billiger als beim Ticketcenter“.
Dort sollten zwei Karten 7800 Euro kosten, beste Kategorie. Meine Frau gab nicht auf: „Stehplatz, das macht uns jünger.“ Ich schaute auf den Bildschirm: Ärmer! Zwei Karten 1500 Euro. Ein letztes Aufbäumen: „Erinnere dich an die geteilte Walküre? Jeder eine Halbzeit auf Stehplatz.“ Ich rechnete: das wären läppische 375 Euro für jeden, Stehplatz, eine Halbzeit. Wir schauten uns an,
lachten und beschlossen, Jahresabonnements für die Opern in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und viele schöne Konzertreihen zu kaufen. Auch das Festspielhaus in Baden-Baden werden wir uns leisten. Wir hatten ja viel gespart. Aber nach Wien reisen wir trotzdem. Ich will mich mit dem Mann mit den goldenen Schlüsseln unterhalten, vertraulich. Neujahr bleibt unausweichlich.