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Kolumne von Dr. Dietrich Mack



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Angst vor der Stille?
Unser Verhältnis zur Stille ist ambivalent. Wenn man eine Wohnung sucht, fragt man, ob sie ruhig gelegen ist, auch ein Hotel bucht man nicht an einer Hauptverkehrsstraße. Und dann nicken die Kenner: Ja, ja, die Lage. Andererseits werden Geschäfte und Restaurants intensiv beschallt, weil bei steigendem Geräuschpegel der Konsum steigt, sagen Verhaltensforscher und keiner widerspricht. Bei vielen privaten Festen fürchtet der Gastgeber nichts mehr als die Stille, sorgt für Beschallung, Hintergrundmusik oder engagiert sogar ein wunderbares Trio. Dabei kommen Menschen zusammen, um sich endlich mal wieder in Ruhe zu unterhalten.
Auch in der sogenannten stillen Jahreszeit, die jetzt mit Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag und Advent, den Tagen des Gedenkens, der Sammlung und Vorbereitung auf das Weihnachtsfest beginnt, muss niemand  Stille befürchten. Schon Anfang November öffnen die ersten Weihnachtsmärkte und wer dort nach der dritten „Stillen Nacht“ das Bedürfnis nach Stille verspürt, muss schon in den dunklen Wald flüchten. Die Natur geht schlafen, die Vögel schweigen, Laubteppiche dämpfen den Schritt. Auf den Straßen aber steht man im Stau und im Lärm vor den Märkten, Restaurants, Geschäften – Weihnachten kommt.
Ist Stille ein verlorenes, seltenes Gut, eine schöne Erinnerung, beschworen in den Liedern und Gedichten der Romantik, von Rainer Maria Rilke, dem Großmeister der stillen Jahreszeit oder von Thomas Mann im Zauberberg beschrieben, dessen Held Hans Castorp im Tiefschnee die unbedingte, vollkommene Stille erfährt, tief bis zum Erschrecken als die Vorbedingung des Mutes? So könnte man überall in der Weltliteratur das Lob der Stille finden. Vom Lob des Lärms findet man nichts.
Musik entfaltet ihre große Wirkung nicht nur im Zauber der Klänge, sondern auch in der Stille. Wer einmal erlebt hat, wie nach dem „Requiem“ von Mozart und Verdi, Tschaikowskys „Pathétique“ oder Mahlers „Auferstehungssinfonie“ eine lange, fast körperliche Stille eintritt, weiß, dass diese Momente eine Art Erfüllung sind. Dieses Wechselspiel von Klang und Stille beherrschen auch die Meister der Rhetorik. Barack Obama dehnte die Pausen in seinen Reden bis zur Schmerzgrenze aus, beim Publikum wuchs die Spannung stärker als bei jeder Plauderei.
Mönche sind die standhaften Soldaten der Stille. Bei den Benediktinern gibt es festgelegte Schweigezeiten, bei den Kartäusern ein absolutes Schweigegebot. Philip Gröning hat in dem Film „Das große Schweigen“ eindrucksvoll gezeigt, dass diese Stille kein Verlust, sondern Bedingung für die Selbstfindung ist.
Vielleicht sucht der moderne Mensch die permanente Ablenkung, weil er sich vor dieser Selbstfindung fürchtet. Er glaubt nicht, dass Stille Ausdruck der Stärke sein kann, er glaubt, dass Stille Ausdruck der Schwäche, Unsicherheit, des Versagens ist. Nur wer laut ist, wird gehört. Erfolgreiche Menschen sind laute Menschen. Auf jede Frage eine schnelle Antwort, so abgedroschen sie auch ist. Nachdenken, Zögern wird nicht als Klugheit, sondern Schwäche interpretiert. Vielleicht würde der alte Philosoph Descartes seinen berühmten Satz „Cogito, ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) heute umwandeln in: Ich schweige, also bin ich. So radikal soll es ja nicht kommen, aber die Stille muss sich im Grundrauschen unserer Welt „Gehör“ verschaffen.
Es gibt Hoffnung: Handyverbot in Restaurants, Schulen und für Kinder bis 14 Jahren, Tiktok ab 16 Jahren, wachsende Ruhezonen in der Bahn, Waldbaden als Therapie für seelische Störungen, „Silent Retreats“ als luxuriöse Auszeit. Oft genügt auch in Gesellschaft, wenn sich alle mit vielem und lautem Reden wie Pfaue spreizen, ein mutiger Zwischenruf: Ruhe bitte. Zuhören.
Neulich las ich auf der Suche nach einem guten Restaurant in Viareggio im Internet: „Ambiente tranquillo per conversare.“ Ruhe als neue Restaurant-Qualität. Ich ging hin, nicht einmal der obligatorische Fernseher lief. Fünf Sterne.
Es gibt eine Stille, die Millionen Menschen ersehnen: das Schweigen der Waffen. Und wenn sie endlich schweigen, kann man fröhlich sein.


Mit diesem Text begann alles im Jahr 2015

Unausweichlich: der Jahreswechsel kommt

In vielen Familien haben Silvester und Neujahr feste Rituale. Diese Familien sind glücklich. Ich beneide sie. Bei uns beginnt die Diskussion jedes Jahr von neuem, wenn die Supermärkte die Osterhasen in Weihnachtsmänner umgeschmolzen haben, also im Spätsommer. Sie verschärft sich von Tag zu Tag. Meine Frau, ein Zwilling, ist mit Harmonie und Unentschlossenheit gesegnet. Um mich zu
besänftigen, sagte sie schließlich: „Wien, das wird dir gefallen.“ Viele Jahre habe ich dort studiert, gearbeitet und vor allem gelebt. Meine seligen Erinnerungen kennt sie auswendig, wie das in guten Ehen üblich ist. Wohnen, wo Pavarotti Pasta kochte, Tafelspitz bei Plachutta, Stöbern im Dorotheum, Häppchen mit Pfiff bei Trzesniewsky, Hawelka gegenüber, Stadtheuriger, Krönungsmesse in der Hofburg. Perfekt – dachte ich. Meine Frau nickte ergeben:„Aber nur, wenn wir ins Neujahrskonzert gehen.“ Ich hielt die Luft an. Sie wollte in den Musikvereinssaal, in diesen goldenen Tempel der klassischen Musik. Ein normales Abonnement für die Wiener Philharmoniker ist als Erbschaft begehrter als ein prall gefülltes Nummernkonto. Als Studenten mussten wir auf viele Heurige verzichten und viele Schillinge für Trinkgelder locker machen, um dort Konzerte mit neuer Musik zu hören, also alles nach Wagner, Strauss mal ausgenommen. Ins Neujahrskonzert kam ich nie. Die Eltern meines Freundes aus Texas hatten es ein Mal geschafft. Sie wohnten im Sacher, erwarben sich das Wohlwollen des Chefportiers, der ihnen mit seinen gekreuzten goldenen Schlüsseln das Neujahrskonzert aufschloss. Große Geldscheine umwölkten meine Stirn. Als ich zum Telefon griff, riet mir meine Frau zum Internet, das sei nicht so vornehm, aber sicher preiswerter. Ich fand ein Ticketcenter, das Karten in der besten Kategorie anbot. Meine Lesebrille beschlug sich. Meine Frau hörte mein Stöhnen: „Such bei ebay“. Neue Hoffnung, neue Eingabe. Viele Neujahrskonzerte auf CD, MP3, DVD, Bilder, Bücher und, irgendwo versteckt, 2 Karten gegen Höchstgebot, 5400 (in Worten fünftausendvierhundert) Euro, nicht Schilling. „Immerhin“, sagte meine Frau, „billiger als beim Ticketcenter“.
Dort sollten zwei Karten 7800 Euro kosten, beste Kategorie. Meine Frau gab nicht auf: „Stehplatz, das macht uns jünger.“ Ich schaute auf den Bildschirm: Ärmer! Zwei Karten 1500 Euro. Ein letztes Aufbäumen: „Erinnere dich an die geteilte Walküre? Jeder eine Halbzeit auf Stehplatz.“ Ich rechnete: das wären läppische 375 Euro für jeden, Stehplatz, eine Halbzeit. Wir schauten uns an,
lachten und beschlossen, Jahresabonnements für die Opern in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und viele schöne Konzertreihen zu kaufen. Auch das Festspielhaus in Baden-Baden werden wir uns leisten. Wir hatten ja viel gespart. Aber nach Wien reisen wir trotzdem. Ich will mich mit dem Mann mit den goldenen Schlüsseln unterhalten, vertraulich. Neujahr bleibt unausweichlich.