Weitere Kolumnen von Dr. Dietrich Mack
Im November vor vielen Jahren schrieb eine Frau in ihr sorgsam gehütetes Tagebuch, das später eine abenteuerliche Geschichte machte und erst 45 Jahren nach ihrem Tod 1975 veröffentlicht wurde, er habe Gunther tot geschlagen, arbeite an seinem Ungeheuer, an der Leichenmusik, habe die Frau ins Feuer springen lassen, schon 399 Seiten geschrieben und werde hoffentlich in dieser Woche fertig. Und als er am 21. November vor genau 150 Jahren 403 großformatige Seiten mit je dreißig Liniensystemen geschrieben hatte und endlich fertig war, war die Stimmung zwischen ihr und ihm mies. Er war wieder einmal eifersüchtig auf seinen berühmten Schwiegervater, sie war zerknirscht und schrieb in ihr Tagebuch: „Dreifach heiliger, denkwürdiger Tag!“ und er schrieb unter die riesige Partitur der „Götterdämmerung“: „Vollendet in Wahnfried am 21. November 1874. Ich sage nichts weiter.“ Cosima und Richard Wagner versöhnten sich wieder und er sagte natürlich noch sehr viel. Eigentlich hätten sie an diesem denkwürdigen Tag Champagner trinken müssen. Denn nach 31 Jahren war „Der Ring des Nibelungen“ endlich musikalisch geschmiedet und 1876 wurde er erstmals in Bayreuth als Ganzes aufgeführt.
Seit 1843 hatte sich Wagner mit diesem gigantischen Werk beschäftigt. Den ersten Ideen folgten Prosaentwürfe, Dichtungen, Kompositions- und Orchesterskizzen, Partituren, fünfzehn Stunden Musik. Dazwischen lange Pausen, um kluge und böse Schriften zu verfassen, tausende Briefe zu schreiben, ein abenteuerliches Leben zu führen und vor allem um andere große Opern zu komponieren, immer auf Ruhm und Geld hoffend. Geld war Tinte für die Noten. Er war ein fleißiger und, wenn es um seine Werke ging, ein besessener Mann.
So war auch der Pionier der elektronischen Musik Karl-Heinz Stockhausen. Er arbeitete von 1977 bis 2005 an seinem Opernzyklus „Licht“ und die letzten Uraufführungen fanden erst nach seinem Tod 2007 statt. Sieben Teile hat dieses monumentale Werk, 29 Stunden Musik, fast doppelt so lang wie „Der Ring“. Als Ganzes wurde es bis heute nicht aufgeführt. Auch Stockhausen ging es wie Wagner immer um Geld. Als der Kolumnist ihm einmal half, schrieb er: „Sie sind ein Mensch – also kein Kraftakt, sondern eine vernünftige, liebenswürdige Tat.“ Die Welt soll diesen Besessenen geben, was sie brauchen. Sie geben der Welt ihre Werke, zweifeln nicht dran, dass die Welt ihre Werke auch will.
Das war auch die Haltung des Autors und Regisseurs Edgar Reitz. Auch er war ein Besessener, der seine Partner, die er oft als Gegner empfand, zur Raserei bringen konnte. Wer nicht in allem auf seiner Seite war, der war gegen ihn. In dieser Hinsicht war er bibelfest. Von 1981 bis 2012 arbeitete er an seiner monumentalen „Heimat“, drei Teile, dazu Prolog und Epilog, 31 Filme, 50 Stunden.
„Licht“ und „Heimat“ sind für die Geschichte der Musik und des Films hochinteressant, aber nur der „Ring“ hat eine lebendige Gegenwart. Immer wieder ist er eine Herausforderung für Orchester, Sänger, Dirigenten und vor allem für Regisseure. Die toben sich beim „Ring“ mächtig aus. Er kommt stückweise auf die Bühne und zu besonderen Anlässen geschlossen. Im Wagner-Jubeljahr 1933 kamen mehr als dreißig komplette „Ring“ Neuinszenierungen auf die deutschen Bühnen. Das nächste Jubiläum steht an, 150 Jahre Bayreuther Festspiele 2026. Wenn es zum Beispiel dem Festspielhaus in Baden-Baden gelänge, den „Ring“ in den vier interessantesten Inszenierungen von vier Opernhäusern zu präsentieren, an vier Tagen mit zwei Tagen Erholung dazwischen, wetten, dass der Erfolg riesig wäre, ein Fressen für alle Wagnerianer, Hotel und Gastronomie eingeschlossen. Wer das Monumentale nicht liebt, hält sich an Bach, Mozart, Rossini oder Schubert. Die haben Meisterwerke in wenigen Tagen komponiert, allerdings sind diese etwas kürzer als fünfzehn Stunden.
Mit diesem Text begann alles im Jahr 2015...
Unausweichlich: der Jahreswechsel kommt
In vielen Familien haben Silvester und Neujahr feste Rituale. Diese Familien sind glücklich. Ich beneide sie. Bei uns beginnt die Diskussion jedes Jahr von neuem, wenn die Supermärkte die Osterhasen in Weihnachtsmänner umgeschmolzen haben, also im Spätsommer. Sie verschärft sich von Tag zu Tag. Meine Frau, ein Zwilling, ist mit Harmonie und Unentschlossenheit gesegnet. Um mich zu
besänftigen, sagte sie schließlich: „Wien, das wird dir gefallen.“ Viele Jahre habe ich dort studiert, gearbeitet und vor allem gelebt. Meine seligen Erinnerungen kennt sie auswendig, wie das in guten Ehen üblich ist. Wohnen, wo Pavarotti Pasta kochte, Tafelspitz bei Plachutta, Stöbern im Dorotheum, Häppchen mit Pfiff bei Trzesniewsky, Hawelka gegenüber, Stadtheuriger, Krönungsmesse in der Hofburg. Perfekt – dachte ich. Meine Frau nickte ergeben:„Aber nur, wenn wir ins Neujahrskonzert gehen.“ Ich hielt die Luft an. Sie wollte in den Musikvereinssaal, in diesen goldenen Tempel der klassischen Musik. Ein normales Abonnement für die Wiener Philharmoniker ist als Erbschaft begehrter als ein prall gefülltes Nummernkonto. Als Studenten mussten wir auf viele Heurige verzichten und viele Schillinge für Trinkgelder locker machen, um dort Konzerte mit neuer Musik zu hören, also alles nach Wagner, Strauss mal ausgenommen. Ins Neujahrskonzert kam ich nie. Die Eltern meines Freundes aus Texas hatten es ein Mal geschafft. Sie wohnten im Sacher, erwarben sich das Wohlwollen des Chefportiers, der ihnen mit seinen gekreuzten goldenen Schlüsseln das Neujahrskonzert aufschloss. Große Geldscheine umwölkten meine Stirn. Als ich zum Telefon griff, riet mir meine Frau zum Internet, das sei nicht so vornehm, aber sicher preiswerter. Ich fand ein Ticketcenter, das Karten in der besten Kategorie anbot. Meine Lesebrille beschlug sich. Meine Frau hörte mein Stöhnen: „Such bei ebay“. Neue Hoffnung, neue Eingabe. Viele Neujahrskonzerte auf CD, MP3, DVD, Bilder, Bücher und, irgendwo versteckt, 2 Karten gegen Höchstgebot, 5400 (in Worten fünftausendvierhundert) Euro, nicht Schilling. „Immerhin“, sagte meine Frau, „billiger als beim Ticketcenter“.
Dort sollten zwei Karten 7800 Euro kosten, beste Kategorie. Meine Frau gab nicht auf: „Stehplatz, das macht uns jünger.“ Ich schaute auf den Bildschirm: Ärmer! Zwei Karten 1500 Euro. Ein letztes Aufbäumen: „Erinnere dich an die geteilte Walküre? Jeder eine Halbzeit auf Stehplatz.“ Ich rechnete: das wären läppische 375 Euro für jeden, Stehplatz, eine Halbzeit. Wir schauten uns an,
lachten und beschlossen, Jahresabonnements für die Opern in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und viele schöne Konzertreihen zu kaufen. Auch das Festspielhaus in Baden-Baden werden wir uns leisten. Wir hatten ja viel gespart. Aber nach Wien reisen wir trotzdem. Ich will mich mit dem Mann mit den goldenen Schlüsseln unterhalten, vertraulich. Neujahr bleibt unausweichlich.