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Kolumne von Dr. Dietrich Mack


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Skalpjäger im Opernhaus?

Kürzlich ging ich ins Kino. Im Kino lief, seit seiner Premiere in Cannes vielfach besprochen, gelobt und verrissen, der erste Teil des Film-Epos „Horizon“ von und mit Kevin Costner. Dem zweiten Teil ging es in Venedig nicht besser, eher schlechter. Aber Costner verdanken wir großartige Filme wie „Bodyguard“, „Yellowstone“ und vor allem „Wer mit dem Wolf tanzt“, der so spannend ist wie „High Noon“, „Rio Bravo“ oder „Spiel mir das Lied vom Tod“. Ich liebte diese Filme ebenso wie die Indianer-, Western- und Abenteuerbücher meiner Jugend. Immer bin ich mitgeritten, habe mitgelitten, mich über ein Happyend gefreut, auch wenn es bittersüß war. Meist war ich auf Seiten der Indianer, natürlich der guten, nicht der bösen, also der Apachen oder Lakota, nicht der Comanchen oder Pawnee, ahnte aber zunehmend, dass diese Bücher und Filme nicht der historischen Wahrheit, sondern der Spannung, der Unterhaltung verpflichtet sind, dass „gut“ und „böse“ sehr relative Begriffe sind.
Costner will mit dem Film-Epos „Horizon“ alle Mythen abräumen, die ganze Wahrheit über den Wilden Westen erzählen. Mit der halben hat er schon in „Wer mit dem Wolf tanzt“ begonnen. Ob und wie ihm das gelingt, bleibt abzuwarten. Vier Teile sind geplant. „Horizon“ ist gut drei Stunden lang, ein Epos mit mächtigen Landschaftsbildern, kluger Musikdramaturgie, eindringlichen Charakteren und vielen verwirrenden Erzählsträngen. Episch eben. Es gibt sehr ruhige Szenen, einen fast philosophischen Dialog zwischen Costner und Jamie Campbell Bower (der allerdings für Bower tödlich endet) und zwei gewaltige und gewalttätig von Costner inszenierte Aktionsszenen. Da fließt viel Blut, aber wirklich schockiert hat mich das Skalpieren.
Diese Grausamkeit, die sich schon in uralten Mythen findet, wird in der Jugendliteratur meist verharmlost und den bösen Indianern und weißen Schurken zugeordnet, nicht aber als Geschäft, vom Staat honoriert mit Ankaufspreisen für Kinder, Frauen und Männer in einer Zeit, in der Amerika kulturell aufblühte. Das Nebeneinander von Barbarei und Kultur schockierte mich.
Denn der erste Teil von „Horizon“ spielt während der Sezessionskriege 1861 bis 1865, der mit dem Sieg der Nordstaaten und der Abschaffung der Sklaverei endet (womit das Rassenproblem nicht gelöst war). Apachenland soll erobert werden und da ist jedes Mittel recht. Diese Eroberer und Abenteurer kamen aus dem bereits kultivierten Osten. In Philadelphia, der Wiege der Demokratie, waren schon 1776 die Unabhängigkeitserklärung und die Menschenrechte verkündet worden, in New York 1842 das Philharmonic  Orchestra (im gleichen Jahr wie die Wiener Philharmoniker), 1844 die ersten Kunstmuseen und 1856 in Philadelphia das erste Opernhaus gegründet worden. Im Osten bezauberten europäische Superstars wie Henriette Sontag und die schwedische Nachtigall Jenny Lind, im Westen machten die Skalpjäger grausame Geschäfte. Und als 1872 das Metropolitan Museum und 1883 die MET in New York eröffneten, war der Wilde Westen noch lange nicht vorbei.
Man wird nachdenklich. Waren die Skalpjäger vielleicht im Opernhaus? Wie war dieses Nebeneinander von Fortschritt, Menschenrechten, Kultur auf der einen Seite und staatlich honorierter Barberei auf der anderen Seite möglich? Doch wer im deutschen Glashaus sitzt, sollte keine Steine werfen, denn wie die Nazis das Nebeneinander von Kultur und Barberei praktiziert haben, weiß jeder. Klassische Musik und Opern waren vor den Parteibonzen nicht sicher. In „Horizon“ wirken die Skalpjäger fast normal. Das macht sie besonders böse. Das Böse als Normalität, vom Staat honoriert.
Nun arbeitet Costner an seiner Saga, an seiner Wahrheit weiter. Wie immer geht es um Geld, um viel Geld. Aber er ist ein Besessener und wird, hoffe ich, seine Tetralogie vollenden. Er hat Vorbilder, im Film, in der Musik. Doch davon ein andermal.

Mit diesem Text begann alles im Jahr 2015...

Unausweichlich: der Jahreswechsel kommt

In vielen Familien haben Silvester und Neujahr feste Rituale. Diese Familien sind glücklich. Ich beneide sie. Bei uns beginnt die Diskussion jedes Jahr von neuem, wenn die Supermärkte die Osterhasen in Weihnachtsmänner umgeschmolzen haben, also im Spätsommer. Sie verschärft sich von Tag zu Tag. Meine Frau, ein Zwilling, ist mit Harmonie und Unentschlossenheit gesegnet. Um mich zu
besänftigen, sagte sie schließlich: „Wien, das wird dir gefallen.“ Viele Jahre habe ich dort studiert, gearbeitet und vor allem gelebt. Meine seligen Erinnerungen kennt sie auswendig, wie das in guten Ehen üblich ist. Wohnen, wo Pavarotti Pasta kochte, Tafelspitz bei Plachutta, Stöbern im Dorotheum, Häppchen mit Pfiff bei Trzesniewsky, Hawelka gegenüber, Stadtheuriger, Krönungsmesse in der Hofburg. Perfekt – dachte ich. Meine Frau nickte ergeben:„Aber nur, wenn wir ins Neujahrskonzert gehen.“ Ich hielt die Luft an. Sie wollte in den Musikvereinssaal, in diesen goldenen Tempel der klassischen Musik. Ein normales Abonnement für die Wiener Philharmoniker ist als Erbschaft begehrter als ein prall gefülltes Nummernkonto. Als Studenten mussten wir auf viele Heurige verzichten und viele Schillinge für Trinkgelder locker machen, um dort Konzerte mit neuer Musik zu hören, also alles nach Wagner, Strauss mal ausgenommen. Ins Neujahrskonzert kam ich nie. Die Eltern meines Freundes aus Texas hatten es ein Mal geschafft. Sie wohnten im Sacher, erwarben sich das Wohlwollen des Chefportiers, der ihnen mit seinen gekreuzten goldenen Schlüsseln das Neujahrskonzert aufschloss. Große Geldscheine umwölkten meine Stirn. Als ich zum Telefon griff, riet mir meine Frau zum Internet, das sei nicht so vornehm, aber sicher preiswerter. Ich fand ein Ticketcenter, das Karten in der besten Kategorie anbot. Meine Lesebrille beschlug sich. Meine Frau hörte mein Stöhnen: „Such bei ebay“. Neue Hoffnung, neue Eingabe. Viele Neujahrskonzerte auf CD, MP3, DVD, Bilder, Bücher und, irgendwo versteckt, 2 Karten gegen Höchstgebot, 5400 (in Worten fünftausendvierhundert) Euro, nicht Schilling. „Immerhin“, sagte meine Frau, „billiger als beim Ticketcenter“.
Dort sollten zwei Karten 7800 Euro kosten, beste Kategorie. Meine Frau gab nicht auf: „Stehplatz, das macht uns jünger.“ Ich schaute auf den Bildschirm: Ärmer! Zwei Karten 1500 Euro. Ein letztes Aufbäumen: „Erinnere dich an die geteilte Walküre? Jeder eine Halbzeit auf Stehplatz.“ Ich rechnete: das wären läppische 375 Euro für jeden, Stehplatz, eine Halbzeit. Wir schauten uns an,
lachten und beschlossen, Jahresabonnements für die Opern in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und viele schöne Konzertreihen zu kaufen. Auch das Festspielhaus in Baden-Baden werden wir uns leisten. Wir hatten ja viel gespart. Aber nach Wien reisen wir trotzdem. Ich will mich mit dem Mann mit den goldenen Schlüsseln unterhalten, vertraulich. Neujahr bleibt unausweichlich.