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Kolumne von Dr. Dietrich Mack


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Vom nutzlosen Glück der Musik

Nachdem der Fußball ausgerollt ist, Wunden geleckt und Triumphe gefeiert sind, muss man sich leider wieder wichtigen Dingen zuwenden, die im medialen Tsunami des Fußballs untergegangen sind. Aus Weimar, das sich auf seiner Homepage mit Goethe und Schiller, Bach und Liszt und weiteren Celebritäten rühmt, ausgerechnet aus Weimar kamen schlechte Nachrichten: Die „Musikhochschule Franz Liszt“ will die Alte Musik entsorgen und die Musikwissenschaft ausdünnen, sich in Ausbildung und Lehre auf das konzentrieren, was am Markt gefragt ist, also auf das Repertoire von Mozart bis Strauss.  Altes, Neues, Nutzloses weg. Auch die arme Blockflöte soll auf dem Hochaltar des Nutzens geopfert werden.
Diese ehrwürdige Musikhochschule wurde 1872 auf Initiative von Franz Liszt gegründet, im gleichen Jahr, in dem sein Schwiegersohn in Bayreuth den Grundstein für sein Festspielhaus legte. Zwei kühne Unternehmungen. Liszt war nicht nur der Klaviervirtuose schlechthin und Liebling der Frauen, der mit Metoo sicher Probleme gehabt hätte, sondern auch ein umtriebiger Influencer, Kulturpolitiker und Pädagoge, dem die Ausbildung von Orchestermusikern (später kamen Sänger und alle Opernberufe hinzu) am Herzen lag. Sein Anspruch war umfassend. Beethoven ohne Monteverdi, Saxophon ohne Blockflöte geht nicht. Ein Baum kann nur wachsen, wenn die Wurzeln gesund sind.
Die Nachricht fällt nicht aus einem wolkenlosen Himmel. Es donnert seit langem und wirft die grundsätzliche Frage auf: Wie steht es mit den kreativen Fächern in Schulen und Hochschulen? Sie gelten, das sagt schon viel, als Orchideenfächer, sind nicht so robust wie Mathe und Deutsch oder die sogenannten MINT Fächer, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik. Wenn eine „Pisa-Studie“ belegt, dass deutsche Schüler schwach in Mathe und Deutsch sind, fordert Markus Söder die Streichung von Musikstunden, um diese Fächer zu stärken. Basta.
Auch an den Hochschulen wird umgeschichtet und gespart. Noch immer beneidet uns das Ausland um unsere vielen Orchester, Theater und Hochschulen. Noch immer gibt es 26 Musikhochschulen und acht für Kirchenmusik, die viel zu viele Studenten für den Arbeitsmarkt ausbilden. Den berüchtigten Fachkräftemangel gibt es in der Kulturbranche nicht. Wer so tollkühn ist, seine Konzertreife als Pianist zu machen, wird sich mit schlecht bezahlter Liedbegleitung, Kammermusik und Lehraufträgen durchschlagen – bestenfalls. Auf die sozial abgesicherten Orchesterstellen ist der Druck enorm, nicht selten bewerben sich hundert oder mehr junge Genies auf eine Stelle. All diese jungen Musiker und Musikwissenschaftler müssen Glück haben, reich heiraten oder erben; am besten alles zusammen.
Wenn wir unser Bildungssystem nur als Ausbildungssystem betreiben, schon in der Grundschule kleine Experten ausbilden, nur die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes gelten lassen wollen, dann sind Sparen und Umschichten notwendig. Aber vielleicht sind Kunst und Kultur mehr als nur Dienstleister, sind überhaupt nicht, wie in Pandemiezeiten argumentiert wurde, systemrelevant, obwohl sie nachweislich die soziale Kompetenz und Intelligenz fördern, Standorte für Unternehmen attraktiver machen und damit einen ökonomischen Mehrwert haben, vielleicht sind sie „nur“, wie Carolin Emcke in einem Essay schrieb, ein nutzloses, autarkes, wertvolles Glück. Ein kühner Gedanke.
Ist Weimar die berüchtigte Spitze des Eisbergs? Auch „Faust“ als Pflichtlektüre in den Schulen hat Söder schon abgeschafft. Wenigstens Loriot sollte er lesen: Ein Leben ohne Blockflöte und „Faust“ ist möglich, aber nicht sinnvoll.


 

Mit diesem Text begann alles im Jahr 2015...

Unausweichlich: der Jahreswechsel kommt

In vielen Familien haben Silvester und Neujahr feste Rituale. Diese Familien sind glücklich. Ich beneide sie. Bei uns beginnt die Diskussion jedes Jahr von neuem, wenn die Supermärkte die Osterhasen in Weihnachtsmänner umgeschmolzen haben, also im Spätsommer. Sie verschärft sich von Tag zu Tag. Meine Frau, ein Zwilling, ist mit Harmonie und Unentschlossenheit gesegnet. Um mich zu
besänftigen, sagte sie schließlich: „Wien, das wird dir gefallen.“ Viele Jahre habe ich dort studiert, gearbeitet und vor allem gelebt. Meine seligen Erinnerungen kennt sie auswendig, wie das in guten Ehen üblich ist. Wohnen, wo Pavarotti Pasta kochte, Tafelspitz bei Plachutta, Stöbern im Dorotheum, Häppchen mit Pfiff bei Trzesniewsky, Hawelka gegenüber, Stadtheuriger, Krönungsmesse in der Hofburg. Perfekt – dachte ich. Meine Frau nickte ergeben:„Aber nur, wenn wir ins Neujahrskonzert gehen.“ Ich hielt die Luft an. Sie wollte in den Musikvereinssaal, in diesen goldenen Tempel der klassischen Musik. Ein normales Abonnement für die Wiener Philharmoniker ist als Erbschaft begehrter als ein prall gefülltes Nummernkonto. Als Studenten mussten wir auf viele Heurige verzichten und viele Schillinge für Trinkgelder locker machen, um dort Konzerte mit neuer Musik zu hören, also alles nach Wagner, Strauss mal ausgenommen. Ins Neujahrskonzert kam ich nie. Die Eltern meines Freundes aus Texas hatten es ein Mal geschafft. Sie wohnten im Sacher, erwarben sich das Wohlwollen des Chefportiers, der ihnen mit seinen gekreuzten goldenen Schlüsseln das Neujahrskonzert aufschloss. Große Geldscheine umwölkten meine Stirn. Als ich zum Telefon griff, riet mir meine Frau zum Internet, das sei nicht so vornehm, aber sicher preiswerter. Ich fand ein Ticketcenter, das Karten in der besten Kategorie anbot. Meine Lesebrille beschlug sich. Meine Frau hörte mein Stöhnen: „Such bei ebay“. Neue Hoffnung, neue Eingabe. Viele Neujahrskonzerte auf CD, MP3, DVD, Bilder, Bücher und, irgendwo versteckt, 2 Karten gegen Höchstgebot, 5400 (in Worten fünftausendvierhundert) Euro, nicht Schilling. „Immerhin“, sagte meine Frau, „billiger als beim Ticketcenter“.
Dort sollten zwei Karten 7800 Euro kosten, beste Kategorie. Meine Frau gab nicht auf: „Stehplatz, das macht uns jünger.“ Ich schaute auf den Bildschirm: Ärmer! Zwei Karten 1500 Euro. Ein letztes Aufbäumen: „Erinnere dich an die geteilte Walküre? Jeder eine Halbzeit auf Stehplatz.“ Ich rechnete: das wären läppische 375 Euro für jeden, Stehplatz, eine Halbzeit. Wir schauten uns an,
lachten und beschlossen, Jahresabonnements für die Opern in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und viele schöne Konzertreihen zu kaufen. Auch das Festspielhaus in Baden-Baden werden wir uns leisten. Wir hatten ja viel gespart. Aber nach Wien reisen wir trotzdem. Ich will mich mit dem Mann mit den goldenen Schlüsseln unterhalten, vertraulich. Neujahr bleibt unausweichlich.