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Kolumne von Dr. Dietrich Mack


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Bürgerschreck schreckt nicht ab

Natürlich wissen alle Intendanten, wenn Anna Netrebko, political correctness hin oder her, begleitet von der Geigerin Anne-Sophie Mutter und dem Pianisten Lang Lang Arien von Giacomo Puccini in kühnen Arrangements singen würde, dass die Bude voll wäre. Arenen im Morgenland sowieso. Aber es gibt auch andere, weniger kostspielige Wege, um ein Haus voll zu bekommen, wie jüngst die Württembergische Staatsoper bewies. Man muss nur Florentina Holzinger ran lassen.
Wer die Wienerin Holzinger engagiert, weiß, was sie als Performancekünstlerin, Choreographin, Regisseurin liefert, nämlich keine gesittete Wellnessinszenierung, sondern ein Spektakel mit viel Blut, Sex, Gewalt, Exkrementen, Blasphemie, wie das ihr Landsmann Hermann Nitsch mit seinen Bildern auch getan hat, bei dem keiner einen „Röhrenden Hirschen“ fürs Schlafzimmer bestellt hat. Die Wiener lieben das Abgründige. Nur die Arbeiten des spanischen Regisseurs Calixto Bieito sind ähnlich gewalttätig und sexualisiert. Auf einen groben Klotz, so meinen diese Aktionskünstler, gehört eben ein grober Keil.  Das ist eine Geschmackssache.
Viele Schriftsteller, Maler, Filmregisseure oder Komponisten folgten der Losung épater le bourgeois und haben das Publikum aufgeschreckt. Auch Paul Hindemith galt als Bürgerschreck. Das Triptychon „Mörder, Hoffnung der Frauen“, „Das Nusch-Nuschi“ und „Sancta Susanna“ machte ihn 1921 berühmt. Vor allem „Sancta Susanna“ war ein riesiger Skandal. Der berühmte Dirigent Fritz Busch, der die Uraufführungen der beiden ersten Stücke in Stuttgart dirigiert hatte, hielt das Werk für obszön, lehnte ab, es zu dirigieren (die Uraufführung fand in Frankfurt statt). Kirchen und Rechtsparteien protestierten heftig, der Katholische Frauenbund hielt eine dreitägige Sühneandacht ab. Es gab nur wenige Aufführungen. Erst Mitte der 70er Jahre gaben die Erben Hindemiths das Werk frei.
Das Spiel von der „emanzipatorischen Sinnlichkeit“ der Nonne Susanna, die in mystischer Verzückung dem gekreuzigten Heiland das Lendentuch abreißt, sich aber letztlich gegen die Strafe des Einmauerns auflehnt, schockierte damals gewaltig, auch wenn man „die wimmernde Lust“ der Magd nur hörte und nicht sah wie bei Holzinger, und zwar in allen Details. Die Württembergische Staatsoper wies ausdrücklich darauf hin, dass die Aufführung explizite sexuelle Handlungen und (Selbst)Verletzungen zeige, von (sexueller) Gewalt berichte und nur frei sei ab 18 Jahren. So macht das auch die FSK für Filme. Licht und Ton seien teilweise schmerzhaft. Ob das dem jungen Hindemith gefallen hätte, als er schrieb, Tonschönheit sei nur eine Nebensache?
Ganz geheuer ist die Sache den Schwaben nicht. Ausführlich betont man, dass dieses Spektakel eine Koproduktion mit Theatern in Schwerin, Wien, Berlin und Rotterdam sei und gefördert wurde von mehreren Kulturstiftungen. Risiko-Verteilung? Erstaunlich ist, dass die Premiere in Schwerin ohne Blaulicht verlief, in Stuttgart aber mussten sich Theaterarzt und Besucherdienst um Zuschauer kümmern, die das Spektakel nicht aushielten. Man kommt ins Grübeln. Dass die Wiener mit den Abgründen des Lebens und des Theaters viel Erfahrung haben, weiß man, aber die Mecklenburger?  Die Stuttgarter haben doch mit Thomas Bernhard schon einiges erlebt. Jetzt aber schlug der Pietismus durch, obwohl ein Stadtdekan, so las man, recht souverän reagierte. Eine Sühneandacht gab es nicht, dafür Aufregung im Netz, ausverkaufte Vorstellungen (die vorläufig letzte am 3.11.). Ist das nun ein robuster Beitrag zur Emanzipation der Frau oder nur eine Provokation, die schnell verblasst? Positive Aufregungen sind gut für den Kreislauf, auch des Theaters.

Mit diesem Text begann alles im Jahr 2015...

Unausweichlich: der Jahreswechsel kommt

In vielen Familien haben Silvester und Neujahr feste Rituale. Diese Familien sind glücklich. Ich beneide sie. Bei uns beginnt die Diskussion jedes Jahr von neuem, wenn die Supermärkte die Osterhasen in Weihnachtsmänner umgeschmolzen haben, also im Spätsommer. Sie verschärft sich von Tag zu Tag. Meine Frau, ein Zwilling, ist mit Harmonie und Unentschlossenheit gesegnet. Um mich zu
besänftigen, sagte sie schließlich: „Wien, das wird dir gefallen.“ Viele Jahre habe ich dort studiert, gearbeitet und vor allem gelebt. Meine seligen Erinnerungen kennt sie auswendig, wie das in guten Ehen üblich ist. Wohnen, wo Pavarotti Pasta kochte, Tafelspitz bei Plachutta, Stöbern im Dorotheum, Häppchen mit Pfiff bei Trzesniewsky, Hawelka gegenüber, Stadtheuriger, Krönungsmesse in der Hofburg. Perfekt – dachte ich. Meine Frau nickte ergeben:„Aber nur, wenn wir ins Neujahrskonzert gehen.“ Ich hielt die Luft an. Sie wollte in den Musikvereinssaal, in diesen goldenen Tempel der klassischen Musik. Ein normales Abonnement für die Wiener Philharmoniker ist als Erbschaft begehrter als ein prall gefülltes Nummernkonto. Als Studenten mussten wir auf viele Heurige verzichten und viele Schillinge für Trinkgelder locker machen, um dort Konzerte mit neuer Musik zu hören, also alles nach Wagner, Strauss mal ausgenommen. Ins Neujahrskonzert kam ich nie. Die Eltern meines Freundes aus Texas hatten es ein Mal geschafft. Sie wohnten im Sacher, erwarben sich das Wohlwollen des Chefportiers, der ihnen mit seinen gekreuzten goldenen Schlüsseln das Neujahrskonzert aufschloss. Große Geldscheine umwölkten meine Stirn. Als ich zum Telefon griff, riet mir meine Frau zum Internet, das sei nicht so vornehm, aber sicher preiswerter. Ich fand ein Ticketcenter, das Karten in der besten Kategorie anbot. Meine Lesebrille beschlug sich. Meine Frau hörte mein Stöhnen: „Such bei ebay“. Neue Hoffnung, neue Eingabe. Viele Neujahrskonzerte auf CD, MP3, DVD, Bilder, Bücher und, irgendwo versteckt, 2 Karten gegen Höchstgebot, 5400 (in Worten fünftausendvierhundert) Euro, nicht Schilling. „Immerhin“, sagte meine Frau, „billiger als beim Ticketcenter“.
Dort sollten zwei Karten 7800 Euro kosten, beste Kategorie. Meine Frau gab nicht auf: „Stehplatz, das macht uns jünger.“ Ich schaute auf den Bildschirm: Ärmer! Zwei Karten 1500 Euro. Ein letztes Aufbäumen: „Erinnere dich an die geteilte Walküre? Jeder eine Halbzeit auf Stehplatz.“ Ich rechnete: das wären läppische 375 Euro für jeden, Stehplatz, eine Halbzeit. Wir schauten uns an,
lachten und beschlossen, Jahresabonnements für die Opern in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und viele schöne Konzertreihen zu kaufen. Auch das Festspielhaus in Baden-Baden werden wir uns leisten. Wir hatten ja viel gespart. Aber nach Wien reisen wir trotzdem. Ich will mich mit dem Mann mit den goldenen Schlüsseln unterhalten, vertraulich. Neujahr bleibt unausweichlich.